Was haben Ibrahimoglu Samataga aus Azerbeijan und Marc Chagall gemeinsam ? Was verbindet Franz Ringel mit Ursula Schmelzer aus Berlin? Was eint den wilden Deutschen Felix Samuel Pfefferkorn mit dem kühlen Photorealismus einer Andrea Holzinger? Und warum werfe ich Gunter Damisch und Figueira Tschale von den Kapverden in einen Topf?
Als Klammer für diese scheinbaren Gegensätze dient die native, beziehungsweise die naive Kunst.
Native Malerei ist im Allgemeinen definiert als Kunstäußerung von Völkern, die noch eng mit der Natur verbunden sind. Man denkt in erster Linie an Afrika, indianische Kultur oder an Aborigines. Ich möchte diesen Begriff nicht allein auf diese Völker beschränken, sagt doch der englische Begriff „native“ weit mehr als „geboren sein in“, „stammen von“. „native“ steht für Ursprung, und das bezieht sich sich nicht allein auf ursprüngliche, naturverbundene Völker.
Ursprüngliches existiert auch in allen Ländern Europas, darüber hinaus auch im Ursprung des Lebens, im Rollenspiel der Geschlechter im sozialen, gesellschaftlichen Kontext. Dies schließt natürlich das traditionell Ursprüngliche der Naturvölker nicht aus.
Naive Malerei hingegen umschreibt größtenteils das Schaffen autodidakter Künstler. Der Begriff mischt sich daher in der traditionellen Volkskunst sogleich mit nativer Kunst. Mit dem Niedergang der europäischen Volkskunst im 19. Jahrhundert trat die naive Kunst die Nachfolge an. Mit Henry Rousseau wurde die naive Kunst eine feste Größe in der Kunstgeschichte. Auch in dieser Ausstellung vermischen sich die Begriffe „nativ“ und „naiv“.
Bei traditionell Nativ ist Figueira Tschale ein bedeutsamer Vertreter. Seine europäische Ausbildung zeigt in den wuchtigen Figuren Anklänge an Leger – die Kraft des Afrikanischen kommt ebenso voll zur Geltung. In seinen Themen Liebe, Tod, Entstehung des Lebens, Kinder, Frauenrechte knüpft er an Ursula Schmelzer, Samataga, Maria Henn, ja sogar an Rembrandt an. Die Figuren in Rembrandts berühmtem Anatomiebild wurden von Figueira direkt übernommen, sein Leichnam ist aber eine Frau auf dem Operationstisch, die von Machos angestarrt wird. Figueira kämpft gegen die Verwendung der Frau als Lustobjekt. Weitere Parallelen finden wir bei Gunter Damisch, sowohl in seinen kosmischen Welten mit Kleinstlebewesen, wie Amöben- der Suche nach dem Ursprung des Lebens, als auch in seiner „afrikanischen“ Radierung „Kopfstehertotem“. Samataga bezieht sich in seiner Arbeit „Afrikanischer Urknall“ auch auf diesen Ursprung, er symbolisiert Afrika mit zwei Terrakotten aus dem Haus der Völker. Auch die naive Arbeit „Dead man“ von Clemens Reichard mit einem roten Kanu im tiefen Blau des Wassers suggeriert Entstehen von Leben.
Traditionell native Kunst findet ihre Fortsetzung bei Zigarren rauchenden Kubanerinnen, in Alltagsszenen aus Karpathos, die eher zur naiven Malerei zu zählen sind, sowie Kunst aus Bali. An die heimischen Künstler fügen sich die streng en face dargestellten Frauen mit stechenden Blicken eines Zeppel-Sperls, der lange in Bali gelebt hat. Sie erinnern an die traditionelle, religiöse Malerei Balis.
Auch in Russland gibt es Beispiele nativer Malerei, zwei Farblithographien Marc Chagalls und einem über einem Dorf schwebenden Engel Samatagas. Europa ist bei beiden Künstlern natürlich nicht wegzudenken. Chagalls schwebende Figuren dominieren in seiner Arbeit „ Revolution“, die an Naives anknüpft. Das zweite Blatt zeigt Liebende. Die Frau dreht ihr Antlitz dem Beschauer zu, ein Ausdruck großer Emotion. Dies findet sich bei Samataga wieder in seinen Arbeiten Trauertriptychon und “Die Gesägten“, die mit dem für ihn wichtigen Thema der Unterdrückung wiederum an Figueira Tschale erinnern. (Gesägte sind in Azerbeijan politisch Verfolgte). Gleichsam als Schutz vor Unterdrückung malt Samataga immer wieder Themen wie die Geborgenheit in der Familie, Dorfleben oder Menschen mit Tieren.
Als ureuropäische native Kunst sind drei Beispiele für diese Ausstellung ausgewählt worden. Urtirolerisches tritt uns im Triptychon „Tiroler Mahl“ von Andrea Holzinger mit einer an Egger-Lienz erinnernden Ausformung der Figuren entgegen. Na(t)ives aus der zu Ende gehenden Donaumonarchie zeigen Miniaturen von Hans Crepaz: „Willkommen in Ischl“ mit einem vertrotteltem Kaiser und „Der österreichische Doppeladler“ mit spezifischen Reichsinsignien (Gamsbart, Apfel und Weinheber). Urdeutsches sollte auch nicht fehlen- die gestische Malerei eines Felix Samuels Pfefferkorn mit seiner Serie „Potatoland“rückt typisch Deutsch-Natives grell ins Licht- Kartoffeln und das Brandenburger Tor in den deutschen Landesfarben. Pfefferkorn war mit Kippenberger, Fetting , Salomone und Immendorf ein Mitstreiter der deutschen Wilden, den Kreis um die Galerie am Moritzplatz in Berlin.
Ein weiteres umfassendes Thema na(t)iver Kunst ist das oben erwähnte Rollenspiel der Geschlechter, hier am markantesten vertreten durch Ursula Schmelzer aus Berlin. Sie greift frei von Zwängen, frech, frivol und mit hintergründigem Humor in den „Kampf“ der Geschlechter ein. Sie fordert das traditionell unterdrückte Bekenntnis der Frauen zu ihrem Geschlecht. Sie scheut hierbei keine tabuisierten Darstellungsformen , bei welchen sich sogleich Paralellen zu Franz Ringels Psychogrammen auftun. Zum selben Thema der unterdrückten Frau reihen sich auch die Arbeiten „Burkas im Spiegel“ von Andreas Holzknecht, „Selbstportrait“ von Judith Zillich, mit einer Häkelarbeit über dem Portrait- und „Eisbecher“ von Maria Henn mit der Rolle der Frau als Dekoration, als Lustobjekt.
Last, but not least noch ein direktes Beispiel zur Ursprünglichkeit, zu na(t)iver Spontanmalerei: ein Großformat von Wolfgang Cappelari und Andreas Holzknecht, das gemeinsam auf Grund von gegenseitig „empfohlenen“ Themen schnell und spontan entstanden ist.